Julia Hemmerlings Laudatio für das Paranormal String Quartet

Am Freitag, dem 12. Mai 2023, haben wir im Rahmen des Eröffnungskonzertes zum 32. Sächsischen Mozartfest 2023 „Status quo“ den Sächsischen Mozartpreis an das Paranormal AString Quartet verliehen. Die Laudatio hielt Julia Hemmerling, die als Jazz-Fachfrau für die gesamte ARD als freie Radioredakteurin tätig ist. Hiermit veröffentlichen wir nun die Laudatio in Schriftform:

Aus den ausgewählten Briefen von Wolfgang Amadeus Mozart. München, 30. September 1777: Mozart kommt durch Beziehungen zu einer persönlichen Begegnung mit dem Kurfürsten von Bayern. Dem sagte er:

„ich bin schon drei Mal in Italien gewesen, habe drei Opern geschrieben, bin Mitglied der Akademie in Bologna, habe müssen eine Prob ausstehen, wo viele Maestri vier bis fünf Stund gearbeitet und geschwitzet haben, ich habe es in einer Stund verfertigt. Das mag zur Zeugnis dienen, dass ich im Stande bin, in einem jedem hof zu dienen; mein einziger Wunsch ist aber, Euer Kurfürstlichen Durchlaucht zu dienen, der selbst ein großer-„.-„Ja, mein liebes kind, es ist keine Vakatur da, mir ist leid. Wenn nur eine Vakatur da wäre!“ – „Ich versichere Euer Durchlaucht, ich würde München gewiss Ehre machen.“ – „Ja, das nutzt alles nicht, es ist keine Vakatur da.“ Dies sagte er gehend. Ca 240 Jahre später steht ein Streichquartett auf dem Boden derselben Stadt und spielt Filmmusik – nicht für Euer Durchlaucht – sondern, und das ist irgendwie so ähnlich, für einen Streamingdienst, der dafür bekannt ist, sehr viel Geld für Produktionen in die Hand zu nehmen. Die Musiker: Muskelshirt, Lederjacke, die Violine légère auf der Schulter, Oberarme, Stephane Grapelli Hut, drei Männer, eine Frau. Einer spielt seine Geige wie eine Gitarre. Pizzicato mit Links, Chopping mit der rechten, Herbie Hancock sollte das mal hören. Seine Kurfürstliche Durchlaucht zu Bayern hat so kurz vorm Ableben offenbar Mozart nur so halb verstanden, das mit dem Pizzicato in der Linken wäre für den Kurfürsten zu Bayern ein bisschen zu viel gewesen, vermute ich mal. Ich würde es jedenfalls verstehen: Denn, hier haben Musiker und Musikerinnen eine Spielweise entwickelt, die nur aus einer Generation kommen kann, die mit Elektronik aufgewachsen ist. Und diese Elektronik hat das Paranormal String Quartett jetzt ganz analog mit jahrhundertealten Mitteln überholt, ohne Loop Station, ohne Effekte und derartigen Firlefanz, reine Handarbeit. Ein Streichquartett, dass natürlich während des DJ Wechsels auf einem Elektrofestival unverstärkt das Publikum zum Jubeln bringt. Dass hier Komposition entsteht, die sich durch sauberes Handwerk auszeichnet, aber vielleicht Jean-Luc Ponty, Adam Baldych, Abel Selaocoe, Tim Levebre, oder Ann Dorsey im Herzen trägt, macht die Sache sowohl für die Klassikwelt, als auch für die Welt des Jazz wirklich interessant.

Das Paranormal String Quartett ist einerseits ein Kniefall vor den für uns heute noch absolut grundlegenden Errungenschaften der klassischen Klangkörper. Andererseits ein „Danke, meine Herren. Ab hier machen wir weiter.“

Wissen Sie, ich werde bei meiner Arbeit immer wieder mit der Angst konfrontiert, die Aufmerksamkeit für Klassik könnte aussterben. Und manchmal frage ich mich, verwechseln wir da was? Verwechseln wir durchaus ehrenhafte Interpretation Alter Meister mit klassischer Musik überhaupt? Historische Information mit Schubladendenken? Verwechseln wir Wissen über Musik mit Musik?
Roger Willemsen schrieb mal: „Die Musik ist mir so nah, weil sie mir eine Erlösung vom Begriff und vom kausal logischen einschließt. […] Sie ist vorbegrifflich.“ Dieses Quartett dokumentiert, nein, ich muss es unschärfer formulieren, es spiegelt in einer Weise die heutige Musik wieder, wie sie in Worte und stilistische Kategorien nicht zu fassen ist. Die Musik hat unsere Begrifflichkeiten schon längst überholt. Heut zu Tage aber, wo Einflüsse aus der gesamten Welt, aus jeder Stilistik, aus jedem Medium in einem Musiker in einer Musikerin kulminieren können und dürfen, da können wir schwerlich hinhören und sagen: Ah! Klassik. Wir können nur noch hinhören und sagen: Ah! Das tut gut. Das tritt mit mir in Verbindung. Ahh das brauche ich, um weitermachen zu können. 
Was mich als Jazzredakteurin so fasziniert ist: Die technische Trennschärfe dieses Quartetts, die Exaktheit im Spiel, die sich spätestens seit der Wiener Klassik etabliert hat – UND: genug Unschärfe, genug Kunst und Kreativität um auf Wunsch sogar die Elektronik mit analoger Hand zu überholen. Kein Beat aus dem Musikbearbeitungsprogramm APLLE-Garage Band oder Logic Pro bekommt den Beat und den Groove so nah ans Herz wie die Hände des Paranormal String Quartetts.

Juhuuu, die Musikwelt ist endlich verrückt geworden. Was haben wir in musikalischer Hinsicht für ein Glück, heute zu leben: Da spielt eine in Israel ausgebildete Geigerin (Shir-Ran Yanon) vor harten Jungs und Mädels in Wacken, da sammelt eine Jazzpianistin Johanna Summer Stilistiken von Ravel, Debussy oder Beethoven und leitet sich daraus ihre eigenen Regeln für Jazz-Improvisation ab.

Und nun zu unserem Preisträger-Quartett:

Da schultert ein begnadeter Gustavo Strauß seine Geige und macht ein Reel, ein Kurzvideo, für Instagram von den Proben seiner neuen Oper. Da massiert ein Freigeist namens Jakob Roters mit russischen Wurzeln sein Cello bis es den Groove wiedergibt, mit dem er und Leute auf der ganzen Welt großgeworden sind. Da spielt eine Katherine Barritt, Viola, mal eben was mit den Fanta Vier oder Tim Bentzko ein, bevor sie wieder mit Ellen Seidel am Klavier Johannes Brahms spielt. Da lernt ein Felix Key Weber die Geige von Gregor Hübner kennen, die um die ganze Welt gereist ist. Die sich in der Cumba, im Salsa, der Merengue ausgetobt hat, genauso wie im Blue Grass, der Manouche und im Jazz.
Hätten die Geigen von Gustavo Strauß und Felix Key Weber gewusst, was ihnen blüht? Vielleicht hätten sie sich in die Isar gestürzt, um den Rest ihrer Tage quellend vor sich hin zu schweigen. Aber wissen Sie, das hat Paganinis Geige auch schon probiert und nicht geschafft. Ja, ich weiß, wir Journalistinnen berichten bevor wir recherchieren. Aber ich bin mir ganz sicher, dass es so war.
Der Schock des Neuen, der Tritt der Konservativen hat nichts weiter geschafft, als neue Türen einzutreten. Thelonius Monk sagte in den 60er Jahren mal zu seinem Schlagzeugschüler: „Du weißt, wie man richtig spielt. Jetzt spiel falsch und mach das richtig“. Zu einem Schlagzeuger. Nun stellen wir uns einen Geiger, oder eine Bratschistin vor – ihren langen Weg, den sie als Kinder nehmen mussten. Um erstmal tonal richtig zu spielen. Um dann und nun rutschen wir in den Jazz, um dann gesagt zu bekommen: Improvisiere! Mit ganz neuen Skalen, Flieg! Subtext: Aber triff die Töne. Und ich wette, wenn irgendwann mal eine funktionable Geige mit Bundstäbchen erfunden wird, die Eltern der Grundschulkinder pre-orderten so viele im Netz, man müsste sofort einen Konzern gründen und outsourcen. Und wenn diese Kinder dann doch lieber Schlagzeug lernen wollten, schickte man sie zu den dann schon längst im Ruhestand befindlichen Ikonen des Paranormal String Quartett. Und an ihren Wänden hingen Bilder aus der Elphi, der Carnegie Hall, der Royal Albert Hall, aus Wacken, aus dem Tietz, dem Horns Erben in Leipzig, hoffentlich Grammies, Gott sei Dank kein Jazz-Echo, bestimmt ein deutscher Jazzpreis und ziemlich am Anfang links an der Wand: Der sehr verdiente Sächsische Mozartpreis. Ich gratuliere Euch von Herzen und danke zu tiefst im Namen aller Anwesenden für Eure Kunst. Gustavo Strauß, Katherine Barritt, Felix Key Weber, Jakob Roters.

Julia Hemmerling, freie Moderatorin, Musikredakteurin (Schwerpunkt Jazz).
Autorin des MDR Kultur Jazzlabors.